i miss schlingensief

letztes wochenende ist der aktionskünstler, film- / theater- und fernsehregiesseur christoph schlingensief verstorben, nur wenige wochen vor seinem 50. geburtstag, in folge eines jahrelangen krebsleidens, das er auch in jüngeren theaterstücken sowie einem buch thematisiert hatte.
ich habe christoph schlingensief nur fit erlebt und fit war für ihn kein ausdruck. eher überbordend, explodierend. ein mensch, der nicht für, sondern in seiner kunst gelebt und gelitten hat.
in den neunzigern wurde ich auf ihn aufmerksam, als einer der wenigen deutschen underground-regiesseure, die die extreme suchten. mit „das deutsche kettensägenmassaker“ und vor allem „terror 2000 – intensivstation deutschland“ lieferte er trash-splatter ab, der als subversion gegen den nationalen freudentaumel nach der wiedervereinigung und als reaktion auf den nazi-terror in ostdeutschen no-go-areas verstanden werden konnte.



lustig auch hier die sidekicks gegen die deutsche sekte „universelles leben

populär war auch schlingensiefs aktion gegen die haider/övp-regierung in österreich. das war kurz nach staffel 1 von „big brother„. er setzte mutmaßliche asylbewerber in einen container auf einen wiener marktplatz und ließ sie via telefon-votings abschieben.
das spektakel ist dokumentiert in buchform und als dokumentarfilm. gregor gysi und elfriede jelinek hatten damals live vorbeigeschaut, aber noch viele andere, die sich tendentiell eher unfreiwillig blamiert haben während dieser realsatire.

ich selber bin zum ersten mal mittels schlingensief enthusiastisch wahnsinnig geworden durch seine show „u 3000„, die mtv, sichtlich überfordert, in 8 folgen nach 22h sendete. darin beschimpfte er braune eso’s wie christian anders und ließ hartz4-familien auf volksmusikantInnen treffen, deren slogan vom jodeln, das glücklich mache, sich in dieser situation grausam als völkischer sozialdarwinismus offenbarte.
tötet helmut kohl!“ hatte schlingensief bereits 1997 auf der „documenta“ gerufen, wurde dafür festgenommen.
ab 2000 lief dann „u3000“ und dort befasste er sich mehrfach mit linkem antiimperialismus. als er dort samt anhang durch die fahrende berliner u-bahn lief, mit „tötet! tötet! tötet!„-chor, habe ich das im rausch der überfälligen links-entlarvung mit meinen mitbewohnerInnen in einer linken wohngemeinschaft in frankfurt-bockenheim nachgemacht. vom rattenzimmer bis zum gästeklo.
am nächsten tag kamen wir in den genuss von hausmails entsetzter nachbarn.

2003 rief schlingensief „arbeits-, obdach- und hoffnungslose“ zum „pfahlsitzen“ gegen „fremdbestimmte ängste“ auf, u.a. an der frankfurter hauptwache. das ordnungsamt kam dabei erstaunlich gut zurecht mit der 24/7-aktion, an der u.a. ein „konsti-punk“ (punker am brunnen an der konstablerwache) teilnahm, der schließlich gewonnen hat.
es gab auch eine art „speaker’s corner„, ein offenes mikro. so kam es, daß ich mit meinem freund tommes jeweils knapp 10 minütige monologe gg. 23h vor applaudierendem publikum zum besten gaben. themen: die angst, die isolation, die trauer, die hartz-behörde und vor allem deutschland.

quasi zeitgleich fand die aktion „quiz 3000“ in mehreren städten, darunter ffm, statt. schlingensief als günther jauch.
ein freund von mir kam durch das casting, das illegal im vorraum einer frankfurter filiale der „deutschen bank“ stattfand. ich war auch dabei, aber schlingensief hielt mich für einen „taz-redakteur„, ich durfte nicht mitmachen.
in der live-aufführung kam mein freund kaum zu wort. schlingensief zerlegte die inneneinrichtung der bühne am frankfurter schauspielhaus und stellte porträt-fotos an den bühnenrand. robert steinhäuser, der amokläufer von erfurt, versus roland koch, hessischer cdu-ministerpräsident, versus fdp-mölli. zerstört wurden ritualisiert die fotos von koch und möllemann.

zur höchstform lief schlingensief dann während seiner „aktion 18“ auf, der reaktion auf möllemanns antisemitische kampagnen. unter dem motto „tötet politik!“ rief er u.a. in eine vollbesetzte stadthalle langen und führte als warm-up scientology-propaganda-videos auf.


jürgen möllemann positioniert sich in diesem orginal-flyer der fdp als vermeintlicher nahost-experte (in wirklichkeit ermittelte das landeskriminalamt gegen ihn, den präsident der „deutsch-arabischen gesellschaft“, wegen illegaler geschäfte mit arabischen terror-regimen duch seine firma „web-tec“) gegen den israelischen ministerpräsidenten und nimmt den streitbaren tv-talker friedman gleich noch mit als angeblich repräsentativen „juden„, den er somit mit israel gleichsetzt.

verschiedene weitere nennenswerte aktionen waren u.a. die gründung seiner partei „chance 2000 zur bundestagswahl 1998, die subversiver war, als es die „appd“ oder „die partei“ je gewesen sind. oder das massenschwimmen von „arbeitslosen“ im wolfgangsee in richtung helmut kohls ferienresidenz.

zu ehren kam schlingensiefs auch mittels neuinterpretationen von wagner, was natürlich nicht so mein ding war.
lustig war schlingensief, wenn er intimes ausplauderte, etwa über die kulturbeflissenheit der bundeskanzlerin.

schlingensief war der anarchist der zeitgenössischen kunst und letzteres ist etwas, was mich kaum noch interessiert. schlingensief hielt mich aber wach und nutzte alle mittel von den bayreuther festspielen bis zu mtv. alle institutionen wurden überrannt von seinem ausfluss.
und er war ein netter mensch. bis ans ende mit einem attraktiven lausbübischem charme ausgestattet.
ich danke dir, christoph.

tv-termine:

am dienstag wird das ungekürzte interview zwischen christoph schlingensief und katrin bauernfeind im rahmen von „kulturzeit extra“ auf 3sat wiederholt: um 22.25h.

direkt danach läuft die aufzeichnung von schlingensiefs letztem theaterstück „eine kirche der angst vor dem fremden in mir“ von der ruhrtriennale 2008, um 23.10h.

und danach läuft auf 3sat noch der film „the african twintowers„, in dem es um schlingensiefs vision von einem opernhaus in burkina faso geht.

der digitale sender „eins festival“ wiederholt ab 08.09. schlingensiefs erste fernsehshow „talk 2000„. zu den gästen zählten u.a. harald schmidt, rudolph mooshammer, ingrid steeger und hildegard knef. aufgezeichnet in der berliner „volksbühne„.

bei arte läuft am 09.09. das gegenstück: der film „die piloten“ zeigt ein best-of einer nie ausgestrahlten season 2 des gleichen konzepts. zu gast waren da u.a. rolf zacher, jürgen fliege, sido, gunter gabriel, oskar roehler und viele mehr.

siehe auch:

der im wolfgangsee badete“ (jungle world 35/10)


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