blues relativiert weltschmerz

ist blues eine version von depression als chronischer dauerzustand, vermischt mit einem gesunden maß an selbstironie und sarkasmus aufgrund der zynischen routine des neurotischen nervenleidens? oder ist blues die banalisierung der großen gefühle auf einen eingängig-versöhnlichen takt, der geradezu dazu einlädt, sich mit einer gehörigen portion hart-alk von den bedeutungsschwangeren szenen zu distanzieren, die menschen jüngeren alters hysterischer reagieren lassen ?
eine mischung aus beidem vermutlich. chan marshall ist es jedenfalls in den jahren seit ihrem erscheinen auf der bildfläche als solokünstlerin cat power lange zeit auch sehr schlecht gegangen und der blues wirkt bei ihr ehrlich und wie eine logische entwicklung. das publikum im heidelberger karlstorbahnhof war allerdings, wie ich auch, teilweise etwas enttäuscht, dass die post-pubertäre vergangenheit und die kneipenrauchige gegenwart so arg voneinander abgespalten sind, dass kein titel der ersten hälfte ihrer karriere auf dem programm stand. das bedeutet also, keine tracks aus „what would the community think„, „moon pix„, „you are free“ oder „dear sir„; kein „cross bones style„, „nude as the news“, „say“, „good woman“.


sie ist wohl immer noch auf nachholtour der konzerte zu „the greatest“ gewesen, die sie wegen totaler erschöpfung durch alkohol und depression absagen musste. ende des letzten jahres spielte sie in der berliner volksbühne, gestern abend im heidelberger karlstorbahnhof, der vermutlich dann doch noch ausverkauft war, denn es war extrem voll und verdammt heiß.
sie befand sich mit ihrer neuen band bereits seit einigen konzertabstechern auf reise durch europa (kurz zuvor rom, eindhoven, brüssel und eine weitere ausgabe des „all tomorrow’s“-festivals) und auf dem rückweg von aufnahmen zu ihrem zweiten coveralbum, das vermutlich stilistisch an „the greatest“ anknüpfen wird. ein mitmusiker kündigte chan marshall als „die beste blues-sängerin alive“ an.
als sie auf die bühne kam, wurde sie gar nicht sofort vom publikum erkannt und mußte erst mal winken: ein langes weißes hemd, darunter ein schwarzes top. das sah in der kombination und dem schummerlicht fast aus wie eine schwarze krawatte auf weißem hemd. die haare zusammengebunden zu einem langen pferdeschwanz, die augen großzügig umrahmt von make-up.
es folgten keine „legendären“ aussetzer, sie kam mir nur etwas unschlüssig und auch kamerascheu auf der bühne vor. spekulationen, was wohl in dem kaffeebecher war, den sie bei sich hatte, endeten meist mit der vermutung, dass sie vielleicht doch nicht trocken sei.
trotzdem klangen viele tracks aus „the greatest“ live fast noch etwas besser als auf platte, so z.B. „the moon“, „willie“ und „living proof“.

zwischen chan marshall mit ihrer ihr schutzbietenden band und dem publikum war aber eine gewisse distanz zu verspüren, die einigermaßen dadurch relativiert werden konnte, dass die sängerin mit ihren mitmusikern eben etwas zu tun hatte und sie die bühne regelmäßig von links nach rechts abschritt, anstatt wie wohl früher manchmal der situation ganz alleine am klavier ausgeliefert zu sein. aber es ist in der ausgangssituation, insbesondere in deutschland, vielleicht in heidelberg mehr noch als an der berliner volksbühne, zunächst einmal so, wie in diesem sehr schönen intro-artikel von sandra grether beschrieben: in der regel wird mit „einer erschrockenheit, ja abwehr, auf menschen reagiert, die ihren schmerz […] offen artikulieren und ausleben“.
hinzu kommt vielleicht aber auch, dass der battle der chan marshall noch nicht beendet ist, die supergesunde wiederauferstehung, die der in folge dessen unnatürlich aufgepumpt scheinende neu-abstinenzler trent reznor der nine inch nails 2005 mit einem neustart gefeiert hatte. okay, ein hinkender vergleich, zumal sein weltschmerz nicht aus so deutlich sichtbaren neurosen bestand, vielleicht eher aus typischen männlichen egoproblemen und er diesen auch eher in wut-identifikationen verpackte, wodurch er gleich ein bisschen kanalisiert werden konnte.
chan marshall ist süßer. und vielleicht einzigartig in ihrer rolle als künstlerin zwischen entwaffnender authentzität samt präsenz und humor und gleichzeitigem nicht enden wollendem leiden am leben inklusive spürbarem nervösem unwohlsein. nur die musik hat sich etwas geändert und ein weiteres coveralbum ist schon etwas anachronistisch, so als wäre es nach soundso vielen jahren sowieso eine absehbare sache, dass sich die leiderzeugende welt ohnehin nicht mehr ändern wird, warum also darüber neue individuelle fässer öffnen.

meine kameraaufnahmen sind relativ mies geworden.
daher nur ein kurzer wackelclip von „living proof“, in dem die sängerin auch öfters die weniger beleuchteten stellen der bühne aufsucht, und etwas weiter unten eine mp3 vom titeltrack des bislang letzten albums.


video: living proof

[audio:http://iwantedto.be/audio/thegreatest.mp3]
audio: the greatest (live in heidelberg)
download

EDIT: artikel in der faz


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